DAS GESETZ DER ZWEI PROZENT.
EIN INTERVIEW MIT DANILO SILVESTRIN.
Interview: 2030 / Paul Wagner
Danilo Silvestrin hat Stil, Haltung, Humor, aber vor allem hat der italienische Gestalter unglaublich gute Geschichten zu erzählen. Beim Gespräch dankt der gebürtige Bozener demütig dem Zufall, der Fügung, dem Schicksal, wie auch immer man es nennen will, das ihn immer wieder mit bedeutenden Menschen der Zeitgeschichte zusammenbrachte und die ihn prägten. Er war durch Zufall, Fügung, Schicksal dabei, als Ferruccio Lamborghini seinen ersten Rennwagen-Motor startete, als Günther Uecker das Creamcheese erfand …, als Yves Klein …, als Pierre Mendell …, als das BMW ART CAR Konzept … Ach, lesen Sie einfach selbst. Der Wahnsinn.
Foto: Daniel Breidt
Herr Silvestrin, Sie sind Architekt, Interior Designer, Designer, Künstler. Als jemand, der sich schon immer mit der Form, der Spannung, der Reduktion auf das Wesentliche, dem Willen zur Gestaltung auseinandersetzt, wie ertragen Sie es, Morgen für Morgen einen Fuß in diese hässliche Welt zu setzen?
Herr Wagner, diese Problematik gab es schon immer. Nicht nur im Bereich des Designs oder der Architektur. Wenn Sie gut essen gehen wollen oder guten Wein schätzen, wissen Sie: Es gibt immer die paar Wenigen, die in einer anderen Liga spielen. Immer. Es gibt ein altes Gesetz, das Gesetz der zwei Prozent. Es besagt, dass es in allen Bereichen, ob nun jemand Koch, Rennfahrer, Fußballer oder Architekt ist, es höchstens zwei Prozent gibt, die wirklich gut sind. Das sind die, die die Zeit prägen. Die restlichen 98 Prozent sind Mitläufer. Manche laufen besser mit, manche humpeln furchtbar. Das war schon immer so. Und das wird immer so sein. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, es ist hart, aber mit diesen 98 Prozent muss man irgendwie leben. Wenn es in München 1000 Architekten gibt, nur um irgendeine Zahl zu nennen, glaube ich nie und nimmer, dass 20 davon absolut top sind. Niemals. Verstehen Sie, schon harmlose zwei Prozent zu sagen ist gefährlich optimistisch …
Sind die 98 Prozent eine deutsche Situation?
Die Zahl an sich ist überall gleich, aber es gibt Kulturen, bei denen die 98 Prozent doch ein wenig besser mit Ästhetik umgehen können. Ein Beispiel aus meiner Biografie: Als ich in Italien als Kind meine Verwandten auf dem Land besuchte, war es eine Freude zu sehen, wie diese einfachen Arbeiter, Handwerker, Bauern am Sonntag angezogen waren. Jeder wie ein Gott. Wahre Ästheten mit Sinn für das Schöne! Die Italiener haben sicher das Talent, ein wenig besser mit ästhetischen Dingen umgehen zu können als die Deutschen. Der Deutsche ist sehr praktisch, hat seine Ordnung, seine Strenge, seine Werte. Der Italiener ist ein Genießer, er hat die Fähigkeit zu einer Ästhetik des Alltags. Ein Esstisch ist für ihn ein Altar, auf dem er dem Leben und der Gemeinschaft huldigt. Der Kaffee muss einfach grandios schmecken, die Spaghetti sowieso, die Fähigkeit zur Freude an kleinen Dingen ist stark ausgeprägt. Der Deutsche schaut immer und in jeder Situation viel weiter in die Ferne.
Kann man Stil erlernen?
Nein.
Ach? Warum nicht?
Kunst kann man auch nicht lernen. Man kann vielleicht sein Wissen in der Kunst- und Kulturgeschichte verbessern, Künstler ist man dadurch noch lange nicht. Kunst muss man im Blut haben. Stil auch.
Aber Stilempfindung ist doch sicher kulturell vorgeprägt?
Ja, ein Stück weit. Das unglaubliche Gefühl der Afrikaner für Farben, die prachtvollen Gewänder, mit denen sich dort die Frauen kleiden, die Stimmigkeit des Ganzen, das hat sich entwickelt und ist losgelöst von einer individuellen Stil-Entwicklung. Aber ob jemand dann seinen ganz eigenen Stil schaffen kann oder nicht, entscheidet sich am Bauchgefühl. Das hat man oder man hat es nicht. Keine Illusion hierüber!
Ein Haus von der äußeren Form bis hinein ins kleinste Detail zu konzipieren, zu gestalten und zu designen, ist für Sie die Königsdisziplin der Architektur. Das klingt ja schon ein wenig totalitär. Haben Sie auch den Anspruch, dass das Gesamtkunstwerk Haus auch bei demjenigen weitergeht, der es nachher bewohnt? Wie soll der sich verändern?
Ahhhh … die Menschen, für die ich arbeite, sind bereits Ästheten, zum Teil sogar große Ästheten. Sie wachen zumeist über jedes Detail des Hauses, über viele Jahrzehnte hinweg. Bei irgendwann notwendigen Veränderungen, etwa um aus Sicherheitsgründen ein Treppengeländer zu ergänzen, rufen Sie mich herbei. Damit beim Umbau die Balance des Gebäudes gewahrt bleibt. Vor Kurzem ließ mich der Besitzer eines Hauses, das ich vor mehr als 30 Jahren auf Sardinien baute, einfliegen, um ein solches Geländer zu planen, er war zu alt geworden für eine Treppe ohne Sicherung. Das mache ich gern, obwohl ich absolut kein Freund von Geländern bin (lacht). Meine Häuser sind eher Ausdruck der Persönlichkeit der Bauherren, als dass die Eigentümer sich meinem Entwurf unterordnen müssten. Nur in einem Fall ist mir ein Gebäude später entglitten. Es war eines meiner wichtigsten Projekte, für mich persönlich vielleicht das Wichtigste überhaupt, mittlerweile ist es leider zerstört. Dieses Projekt war der Grund, warum ich Anfang der 70er-Jahre nach München kam. Der Innenausbau einer Privatvilla. In meiner Zeit in Düsseldorf war ich durch eine Reihe von Zufällen Assistent von Günther Uecker und rutschte mitten in die Gruppe Zero hinein. Ich fragte also Günther Uecker, Heinz Mack, Adolf Luther, Winfred Gaul und auch Gerhard Richter, ob sie mit mir das Haus gestalten würden und sie machten alle mit. Richter etwa bemalte eine große Wand mit einem Gemälde, das den Garten spiegelte. Es war ein fantastisches Haus mit nach heutigen Marktpreisen unvorstellbar wertvollen Objekten und großartiger Kunst. Es war … es ist leider nicht mehr … Andere Projekte von mir bestehen weiter. In New York etwa.
Wie schaffen Sie es, bei einem Gebäude die Spannung zu halten?
So etwas entsteht nicht in zehn Minuten, das ist klar. Aber im Grunde ist es relativ einfach. Es ist ein Prozess, die Räume müssen in sich stimmig sein, die Sichtachsen gut bestimmt werden, dann kommen die Details: Wo öffne ich den Baukörper? Wo kann ich zum Beispiel durch Kunst Akzente setzen oder verschieben? So entwickelt sich ein Projekt. Die Zeit spielt eine wichtigste Rolle. Für ein Haus, das vor Kurzem fertig wurde hatte ich sechs Jahre Zeit. Es gab keinen Druck, nur den Wunsch des Bauherrn, etwas Tolles zu bauen. Wir haben richtig langsam mit Modellen und Mustern gearbeitet, haben in Affi bei Verona in aller Ruhe Marmorblöcke begutachtet und ausgesucht. Die Armaturen, Beschläge, Türen, das Mobiliar, der Aufzug, alles an diesem Haus ist ein Unikat, alles ist aufeinander abgestimmt. Jedes Detail ist nur für dieses Haus angefertigt worden. Es ist klar, dass sich das nicht jeder leisten kann, das Entscheidende für mich ist aber nicht das Geld, sondern ob jemand die Freude genießen kann, die ein solches Projekt schenken kann.
Das Düsseldorf der 60er-Jahre spielt bei Ihnen eine sehr wichtige Rolle. Sie haben vorhin die Gruppe Zero erwähnt, mit denen Sie zusammengelebt und gearbeitet haben. Das sind Künstler, die heute in den großen Museen der Welt ausgestellt werden und auf Auktionen teuer gehandelt werden. Was für eine Energie war damals dort zu spüren?
Mein Leben ist geprägt von dem unglaublichen Glück, zur richtigen Zeit interessante und inspirierende Menschen kennengelernt zu haben. Noch als Student wurde ich in New York dem Architekturprofessor Werner Ruhnau vorgestellt. Ich hatte in dem Moment keinen blassen Schimmer, wer das war. Wir unterhielten uns nett, und er fragte er mich, ob ich nicht zu ihm nach Essen kommen wolle. Warum nicht?, sagte ich. Ruhnau baute damals mit anderen das bedeutende Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Er ließ einen jungen, unbekannten Künstler aus Paris mit blauer Farbe riesige Schwammreliefs ins Foyer malen, das war Yves Klein. Diese Schwammreliefs haben kunstgeschichtlich einiges bewegt. Ruhnau hatte ein ungeheures Feeling für Moderne Kunst, durch ihn bin ich in diese Welt überhaupt erst reingekommen. Ich kannte das vorher nicht, von dieser modernen Kunst hatte ich keine Ahnung. Ruhnau hat wohl gespürt, dass ich bildhauerisches Talent habe und mich sofort in die Bildhauerklasse an der Folkwang Universität der Künste geschickt. Nach zwei, drei Jahren brachte er mich dann an die Akademie Düsseldorf, um wieder Architektur zu studieren. Er war bestens befreundet mit den Leuten von der Gruppe Zero, ich bin da einfach reingerutscht. Damals hatte ich überhaupt kein Geld, mein Geld habe ich bei Günther Uecker verdient! Ich war praktisch Tag und Nacht bei ihm. Uecker ist ein wunderbar extrovertierter Mensch, ein Mensch, der unheimlich gerne diese ganze Szene, diese ganze Welt der Moderne, aufgesaugt hat. Wir waren ständig auf Ausstellungen, in Antwerpen, Brüssel, Wuppertal, Mönchengladbach, Dortmund. Dort gab es jede Menge kleine Galerien von jungen Leuten, die alle etwas zeigen und bewegen wollten. Das war die Zeit, zu der die ganze Kunstlandschaft im Ruhrgebiet und weit darüber hinaus von der Kunstakademie Düsseldorf geprägt war. Das war Beuys und seine Schüler, seine Happenings. In Düsseldorf gab es eine unheimlich lebendige Szene aus Künstlern, Literaten, Werbeleuten. Uecker und ich waren immer mittendrin, er hat mich überall hin mitgenommen. Das war die tollste, die schönste, die fantastischste Zeit meines Lebens.
Uecker, Piene, Graubner, Mack, Richter, die stehen heute alle auf einem sehr, sehr hohen Podest, sie sind irgendwie entrückt und als Personen weit weg. Und Sie haben sich mit denen die Nächte um die Ohren gehauen?
Na klar. Ueckers Atelier war im Innenhof eines Hauses im Zentrum von Düsseldorf. Auf jeder Etage hatte ein anderer Künstler sein Atelier, Kriwet war im Keller und gegenüber in einem Flachbau malte Gerhard Richter.
Ich sag jetzt nur mal einen Namen: Creamcheese …
Das war eine Bombe! Eine Diskothek, ein Tanzlokal, ein Kunstraum für Happenings. Spoerri hat eine unglaubliche Bar gebaut, Kriwet, Mack, Luther und Richter haben Bilder beigesteuert, ich habe das Raumkonzept entwickelt. Uecker hat das ganze initiiert. Er hat eine Windmaschine, einen riesigen Propeller mit Gitter davor, neben einem Tanzpodest aufgestellt. So übersetzte er genial das Gefühl von Fliegen und Freiheit. Es gab eine Wand aus Bildschirmen, an den Wänden fanden Projektionen und Lichtkunst statt. Das war die Künstlergeneration, die mit ihrer Kunst mitten ins Leben rein wollte und das auch tat. Das Creamcheese schlug voll ein, es war bald immer so überfüllt, dass der Wirt, Achim Reinert, keinen Umsatz mehr machte, weil die Leute nicht bedient werden konnten. Also verlangte er als erster Gastronom in Deutschland Eintritt. Das Creamcheese wurde ein Kunstwerk. Brechend voll, die ganze Nacht. Kraftwerk, CAN, Frank Zappa und viele andere spielten dort, Beuys machte seine Hand-Aktion und Klang-Aktion. Im Creamcheese kamen Leute zusammen, die die Zeit geprägt haben.
Was hatte das alles für einen Einfluss auf Sie? Auf Ihre Arbeit?
Die Ideologie der Zerogruppe war, wie der Name schon sagt, vom Minimalismus geprägt. Durch meine Zusammenarbeit mit der Gruppe entwickelte ich meine eigene Zerowelt. Es war die Reduktion auf das Wesentliche, das Leben mit transparenten Möbeln in leeren Räumen. Der Mensch steht im Mittelpunkt, und der Raum wirkt durch darin hängende Bilder museal. Durch Glück und Zufall bekam ich die Aufgabe, für den berühmten Fotografen Lothar Wolleh dessen Räume in Düsseldorf in totaler Transparenz zu gestalten. Und so begann für mich eine neue Welt, die Welt der Reduktion, der Stärke und des Minimalismus. Das war Ende der 60er-Jahre. Danach wurden diese Möbel von der Firma Lambert produziert und mit Resonanz und Erfolg vertrieben.
Sie haben in Mailand Architektur studiert. Gab es dort auch interessante Begegnungen, Zufälle, schicksalhafte Erlebnisse?
Ein Bauingenieur hat mir 1962 ein Jahres-Praktikum bei einem Bauprojekt in Sant‘ Agata vermittelt, das mich sehr faszinierte. Als junger Mensch war ich natürlich Feuer und Flamme für alles was mit Automobilkultur zu tun hatte. Was für ein Glück, dass ich beim Bau einer kleinen Autofabrik dabei sein konnte. Ich lernte den Besitzer kennen, das war Ferruccio Lamborghini. Er entstammte einer Bauernfamilie und hatte nach dem Krieg eine Traktorenfabrik aufgebaut. Jetzt wollte er einen Sportwagen bauen. Ich war live dabei, als der allererste Lamborghini-Sportwagenmotor überhaupt gestartet wurde. Es war unglaublich, ein Traum, das zu erleben.
Das hat Sie aber nicht dazu gebracht, Auto-Designer zu werden?
Das ist eine Welt für sich und echt brutal. Das ist sehr kompliziert und aufwändig, da kann man nichts anderes zusätzlich machen. Nichts für mich. Trotzdem hat mich der Zufall, die Fügung, das Schicksal, nennen Sie es, wie Sie wollen, in München mit dem damaligen Rennleiter des BMW M-Teams, Jochen Neerpasch, zusammengebracht. Er hatte ein Problem mit der Gestaltung der Rennautos, und gemeinsam mit meinem Freund und stilprägenden Designer Pierre Mendell haben wir diesem Wagen ein eigenes Logo gegeben. Diese drei bekannten Streifen in Blau, Hellblau und Rot sind heute noch die Markenzeichen von BMW Rennsport. Bei einem Abendessen mit dem Rennfahrer Hervé Poulain entstand die Idee, Autos und Kunst zusammenzubringen – das BMW Art Car Projekt. Alexander Calder machten den Anfang, dann weltbekannte Künstler wie Stella, Warhol, Lichtenstein.
Was für ein Glück, da mit dabei gewesen zu sein.
Herr Silvestrin, vielen Dank für das Gespräch.