DAS WICHTIGSTE PERSONAL ACCESSORY IST EINE BRILLE.

EIN INTERVIEW MIT BENJAMIN HEIRICH.

Interview: 2030 / Paul Wagner
Fotos: Leopold Fiala

Benjamin Heirich kommt entspannt in den Showroom geschlendert und nimmt am großen Konferenztisch Platz. Wir sind umgeben von zum Teil legendären Eyewear-Kollektionen. Wie könnte es auch anders sein? Denn Benjamin ist einer der profiliertesten und erfahrensten Produktdesigner im Premium-Eyewear-Bereich. Er arbeitet als Head of Design and Engineering im Münchner Office des italienischen Brillenkonzerns De Rigo. Dort ist er für die Eyewear-Sparte einer ikonischen Designmarke verantwortlich – Porsche Design. Ben gestaltet deren Eyewear-Kollektionen schon seit bald einem Jahrzehnt, vorher bei Rodenstock, seit 2023 bei De Rigo. Sein Designstil ist klar und funktional, seine Kollektionen sind alles andere als einfach nur Merchandise: Sie lösen echte, funktionale Fragestellungen und Probleme durch durchdachte und ästhetische Konstruktionen. Für dieses Gespräch hat er sich für den Fotografen Leopold Fiala als Eyewear-Model zur Verfügung gestellt – und zwar richtig gut.

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Benjamin Heirich / Foto: Leopold Fiala

Ben, über dich kann man mit Fug und Recht sagen: Der weiß, was er tut. Schließlich hast du deine Karriere als Augenoptikergeselle begonnen. Wie hat dich das geprägt?

Sehr stark. Wie übrigens auch andere in meinem Team, die diesen Optiker-Background haben. Aus dem Zusammenspiel beider Welten ergibt sich eine super Chance: Ich weiß sehr genau, welche Probleme Optiker herausfordern und welche Lösungen ihnen helfen. Da spielt ein gutes Storytelling zu jeder Fassung und Kollektion eine große Rolle. Jedes Produkt braucht eine Geschichte. Wir liefern den Optikern Insights zu unseren Designkonzepten und den verwendeten Materialien. Und natürlich auch zur Marke Porsche Design, damit sie diese auch richtig verstehen können. Das alles ist Wissen, das sie für ihre Verkaufsgespräche nutzen können. Neben der Zielgruppe der Endkonsumenten sind unsere wichtigsten Partner die Optiker. Für die wollen wir so attraktiv wie möglich sein, damit sie uns listen.


Neben deinem Bachelor in Produktdesign hast du auch einen Master in Produktplanung. Wie wirkt sich das in deiner Arbeit aus?

Das Wissen um die Prozesse der Produktplanung hilft mir, in die Vogelperspektive zu gehen. Da siehst du nicht nur, was der einzelne Designer oder die Designerin im stillen Kämmerlein bastelt und zeichnet, sondern du hast den Überblick über die gesamte Produktionskette. Das ist wertvoll, besonders wenn man, wie ich, ein interdisziplinäres Team leitet, in dem jede und jeder aus ganz verschiedenen Bereichen kommt und jeweils spezifische Expertisen hat – aus der Raumfahrt oder dem Mobiltelefondesign, um nur zwei Beispiele zu nennen. Diese Expertisen muss ich zwar lenken und so einsetzen, dass es für das jeweilige Produkt oder Projekt am besten ist. Aber die kreative Kraft für neue, innovative Ideen kommt bei uns immer aus dem Team. Es kann einschränkend sein, wenn man, wie ich, diesen gelernten Porsche-Design-Blick auf Konzepte hat. Mein Team hilft mir, gelernte Muster zu verlassen, um auf neue Lösungen zu kommen. Deshalb bin ich auch ganz froh, wenn ich erst mal die anderen zu Wort kommen lassen kann, um ihnen Raum für ihre Ideen zu geben. Alle Ideen werden auf ihre Chancen hin ausgelotet: Wo könnten sich neue Zielgruppen erschließen? Wo könnten sich neue Techniken entwickeln lassen? Da bin ich als Creative Leader gefordert, flexibel zu sein, muss aber auch die Fähigkeit haben, zu argumentieren und zu vermitteln. Ich bin zudem ein großer Fan von Fokus: Nicht zu viele Projekte, sondern wenige wichtige Projekte, bei denen man sich dann wirklich in jedes Detail verbeißt.

 
Irgendwann und irgendwie muss bei dir der Moment kommen, wo sich in deinem Kopf eine Idee für ein neues Konzept formt. Wie genau muss man sich das vorstellen?

Durch meinen Background an der Hochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd bin ich darauf trainiert, mir Ideen regelrecht zu erarbeiten. Es ist nicht so, dass ich auf eine Eingebung warte. Und ich gehe davon aus, dass die meisten Gestalter es sich nicht leisten können, darauf zu warten, dass sie irgendwann die Muse küsst. Es sind Strategien, die zu neuen Produkten und Ideen führen. Wir haben natürlich ein starkes kreatives Team. Da pushen wir uns gegenseitig immer weiter. Aber was bei der Ideenfindung am meisten hilft, sind definierte Strukturen und Prozesse. Der ausschlaggebende Reiz kann aus allen denkbaren Richtungen kommen. Wir haben einmal ein Scharnier entwickelt, da war die Inspiration das Rad eines Bürostuhls.

 
Wie läuft ein Brainstorming bei euch ab?

Da arbeiten wir mit Kreativtechniken und hauen nach dem Motto more is more ohne Wertung so viele Projektideen wie möglich auf den Tisch, um einen Designpool zu bekommen. Die werden dann nach definierten Kriterien bewertet und ausgesiebt. Hier fallen in der Regel zwei bis drei Ansätze auf, bei denen sich das Team einig ist, sie weiterzuverfolgen. Meine Erfahrung ist: Je mehr Projekte man beerdigt, umso klarer ist dann das, was am Ende übrigbleibt. Von den favorisierten Ansätzen werden Zeichnungen erstellt, an die Wand gehängt und unserer Produktmanagerin Katharina, der Marketing-Managerin Dominika und unserem Brand Director Stefan vorgestellt. Dann ist jeder up to date, was bei uns im Produktdesign gerade entsteht.

Bei der Arbeit für Porsche Design bewegt sich dein Team und du ja im Spannungsfeld zwischen dem Begriff der Zeitlosigkeit oder dem erklärten Wunsch, zeitloses Design zu schaffen, und der Anforderung an eine Lifestyle-Marke, auch Trends zu setzen und Brillen zu gestalten, die echte Fashion Statements sind. Wie gehst du mit dieser Spannung um?

Jedes Produkt ist ein Zeuge seiner Zeit. Seine Form wird ja unweigerlich geprägt durch gesellschaftliche Entwicklungen und Strömungen, kulturelle Rahmenbedingungen, Vorstellungen, Interessen und Vorprägungen der Kunden und natürlich auch der Designer und deren Background. Insofern ist es einfach klar, dass jedes Produkt einen Zeitstempel mit sich herumträgt, der festhält, wo und wann es geschaffen wurde. Aber eine Idee hat kein Verfallsdatum. Die hält sich, die bleibt und kann immer nachvollzogen werden. So wie etwa die Idee von F. A. Porsche, eine Sonnenbrille mit Wechselglasmechanismus zu schaffen, die einen Wechsel unterschiedlich getönter Gläser für jede Lichtsituation in Sekundenschnelle möglich macht.


Die P’8478 von 1978 verkauft sich auch heute noch sehr gut …

Stimmt. Sie ist nach wie vor eine der meistverkauften Fassungen von Porsche Design. Sie zeigt, dass der Begriff Zeitlosigkeit nach meinem Verständnis bedeutet, eine Lösung für ein konkretes Problem zu finden, die immer relevant bleibt. Außerdem sollte Zeitlosigkeit als Gegenentwurf zu kurzlebigen Fashion-Trends verstanden werden. Wir stellen uns der Herausforderung, Fassungen zu gestalten, die einen nicht in kurzer Zeit irgendwie alt und outdated aussehen lassen. Der Weg, das zu erreichen, ist bei uns ganz klar ein anderer als bei vielen Mitbewerbern: Wir konzentrieren uns auf die Funktion und lassen alles weg, was überflüssig ist. Damit stehen wir in der Tradition des Bauhaus, der HfG Ulm und auch der Designphilosophie der HfG Schwäbisch Gmünd, von der ich herkomme.


Was genau passiert durch die Konzentration auf die Funktion beim Designprozess? Da sind wir sicher sehr schnell beim Verhältnis von Form und Funktion.

Ja, sicher. Reduktion hat das Potenzial, Eleganz zu schaffen. Aber Minimalismus umzusetzen, ist immer der schwierigere Weg, als etwas zu überladen. In der Wahrnehmungspsychologie gibt es das Modell des Ruheendpols, er markiert den Punkt, ab dem es einfach nicht mehr ruhiger werden kann. In der Gegenrichtung sieht es ganz anders aus. Chaos hat keinen Endpol, es lässt sich unendlich steigern.

 
Aber nicht jede Lösung, die eine Funktion perfekt umsetzt, ist notwendigerweise elegant. Oder?

Das ist die Kunst. Wir wollen Lösungen entwickeln, die wir einerseits in ihrer Reduktion und ihrer Funktion zelebrieren, die dann aber auch einen ästhetischen Anspruch haben und nicht einfach nur aussehen wie ein engineertes Element. Wir wollen, dass du mit deinem Personal Accessory, das du im Gesicht trägst, eine Haltung und ein bestimmtes Verständnis von Ästhetik ausdrücken kannst.

 
Was für ein Signal wollen Menschen, die deine Fassungen tragen, nach außen geben?

Fassungen von Porsche Design sind ein klares Premium-Statement. Natürlich vor dem Hintergrund einer ikonischen Sportwagenmarke, die für Performance, Sportlichkeit und Ingenieurskunst steht. Bei unseren Kunden schwingt sicher der Wunsch eines Imagetransfers von dieser einzigartigen Marke mit. Man könnte auch sagen, die Sehnsucht nach Klasse. Eine Brille ist das wichtigste Personal Accessory, das ein Mensch haben kann. Der Erstkontakt mit anderen läuft immer über die Augen, und alles, was sich in dieser Sphäre befindet, ist in der Wahrnehmung extrem auffällig. Durch die Wahl der Brille kann man seinen Charakter sehr leicht stark verändern oder ihn unterstützen. Bei Porsche Design können wir auch mal recht laut werden und das Markante, etwa die Maskulinität und Sportlichkeit, auf die Spitze treiben. Kantige Formen und ein extrem starker, markanter Ausdruck werden von einigen unserer Kunden geradezu eingefordert, weil sie den Wunsch haben, ihre Persönlichkeit über ihre Brille optisch weiterzuentwickeln. Im Gegensatz zu Korrektionsfassungen, die zuallererst das „I need!“ erfüllen und eine Sehschwäche ausgleichen müssen, steht bei Sonnenbrillen ganz klar das „I want!“ im Vordergrund. Das eröffnet uns im Marketing ganz andere Möglichkeiten. Ich will meinen Typ verändern! Ich will, dass der Nimbus von Porsche auf mich abstrahlt! Ich hol mir eine Sonnenbrille von Porsche Design.

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Welches Verhältnis hat die automobile Designwelt von Porsche zur Eyewearwelt von Porsche Design?

Da gibt es ein gutes aktuelles Beispiel. Wir haben gerade eine neue Serie entwickelt, die Streamline Series, die im Januar gelauncht wird. Da war die Formsprache des Porsche GT3 RS – genauer gesagt das Spoiler-Design – die Inspiration. Natürlich haben wir keinen Spoiler an die Brillen gesetzt, aber hält man sie neben den GT3 RS, erkennt man sofort, dass beide Welten zusammengehören. Es ist eine Übertragung bestimmter gestalterischer Elemente vom zurzeit leistungsstärksten Porsche auf eine Brille. Das markante Design des Spoilers haben wir durch Ausdehnungen, gestaltete Spalten und interessante Hinter- und Querschnitte auf das Brillendesign übertragen. Wir haben eine gewisse Technizität widerspiegeln lassen, zum Beispiel über die Art der Verschraubungen. Die Übertragung findet auch in der Funktion und der Materialauswahl ihre Fortsetzung. Wir haben beispielsweise Steckbügel, die das Ganze natürlich schnittiger und sportlicher machen. Wir setzen Titan ein, das wir in Japan fertigen lassen, denn dort bekommt man die höchste Passgenauigkeit und die beste Qualität und Performance. Außerdem verwenden wir bei der Streamline Series den extrem leichten Hochleistungskunststoff RXP, den wir in der Schweiz herstellen lassen. Dazu sind unsere Pads aus Medical Silicon. Alle Materialien sind auf der einen Seite biokompatibel, auf der anderen bringen sie Performance, Leichtigkeit, Stabilität und Präzision. Gleichzeitig sind alle unsere Fassungen aber auch perfekt anpassbar an die Physiognomie des Trägers. Er soll im besten Fall gar nicht merken, dass er sie trägt.
Tragekomfort ist für jeden Brillenträger key!

 
Du hast deinen akademischen Background erwähnt. Warum hast du dich für die Hochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd entschieden? Weil sie von ihrer Designphilosophie her einfach kompatibel mit dir war? 

Ich glaube, ich bin durch die HfG Schwäbisch Gmünd, die ja in der Tradition des Bauhauses und der HfG Ulm steht, zu dem Designer geworden, der ich heute bin. Die Zeit dort hat mich stark geprägt. Vor meinem Studium hatte ich eine andere Vorstellung von Design – eine, die stärker von individueller Handschrift und künstlerischem Ausdruck geprägt war. In Schwäbisch Gmünd wurde ich jedoch mit einem anderen Ansatz konfrontiert, der die persönliche Handschrift und den gestischen Ausdruck aus dem Produktdesign weitgehend herausnahm. Stattdessen ging es darum, Probleme systematisch zu verstehen und funktionale, langlebige und nutzerorientierte Produkte zu schaffen. Dieser Ansatz stellte die Frage in den Mittelpunkt: Wie kann Design das Zusammenspiel zwischen Mensch und Produkt verbessern? Durch die kritische Auseinandersetzung mit Design als Problemlösungsdisziplin lernte ich, meine Denkweise zu verändern: Was brauchen die Nutzer wirklich? Wie kann ein Produkt intuitiver, langlebiger und nachhaltiger gestaltet werden? Wie wird es genutzt, und wie kann es Menschen im Alltag unterstützen? Dieser Ansatz prägt meine Arbeit bis heute. Es geht mir nicht nur um Ästhetik, sondern vor allem darum, Lösungen zu schaffen, die relevant und zeitlos sind.


Da klingen die 10 Thesen für gutes Design von Dieter Rams an, oder?

Absolut. Die Idee eines guten Designs, das so wenig Design wie möglich ist und Produkte schafft, die brauchbar sind, trifft es gut. Auch der Nachhaltigkeitsgedanke war von Rams schon ausformuliert und auf den Punkt gebracht – Anfang der 70er Jahre!
Mir ist wichtig, Produkte vom Nutzungsaspekt her zu denken, immer wieder neue Blickwinkel auf ein Produkt einzunehmen und auf dieser Basis Innovationen zu schaffen.


Danke für das Gespräch, Ben!

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